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Historisches Seminar

Dissertation

Armut und Bischofsherrschaft. Ansätze zur Deutung bischöflicher Armenfürsorge in der Merowingerzeit.

In der historischen Forschung ist das Phänomen Armut im Mittelalter vergleichsweise spät auf Interesse gestossen. Als die Geschichtswissenschaften dann in den 60er Jahren begannen, sich vermehrt mit der Thematik auseinanderzusetzen, wurde die Armenfürsorge, insbesondere die bischöfliche, höchstens als ein Teil der gesamten Armutsproblematik aufgefasst. Vor allem unter Einbezug der bisher von der Forschung wenig gewürdigten Bischofsepitaphien der Merowingerzeit wird jedoch deutlich, dass die Armenfürsorge im Aufgabenkatalog der Bischöfe eine überaus prominente Rolle einnimmt.

Eine erste Schwierigkeit in der Erforschung von Armut im Frühmittelalter stellt der Armutsbegriff dar. So ist unklar, wer in den Quellen als arm bezeichnet wird. In der Folge wurden deshalb zahlreiche Definitionen für Arme und Armut in die Diskussion eingebracht, wobei die Gemeinsamkeit der von Armut Betroffenen meist darin liegt, dass sie Empfänger bischöflicher Armenfürsorge sind. In Gregor von Tours 10 Büchern Geschichte beschreibt er, dass die pauperes auch Teil des Heeres sein konnten, oder sogar Besitzer von Weinbergen waren. Dem entsprechend erscheint Armut bei Gregor nicht materiell differenziert. Aus seiner Sicht erscheinen alle arm, die nicht den Lebensstil der Oberschicht führen können. Bronislaw Geremek geht denn auch davon aus, dass sich im Laufe des Mittelalters eine Tendenz der Verengung des Begriffs des Armen feststellen lässt. Seien anfänglich alle, die nicht den privilegierten Eliten angehörten unter diese Kategorisierung gefallen, seien es später nur noch diejenigen als Arme bezeichnet worden, deren Existenz auf dem Empfang von Almosen beruhe.

Ein zweiter in der Forschung strittiger Begriff ist derjenige der Bischofsherrschaft. Die frühere Forschung befasst sich vor allem mit der Frage, ob die Konzentration politischer, militärischer, administrativer und sozialer Kompetenzen in der Hand des Bischofs auf die Übernahme subsidiärer Herrschaftsrechte oder auf kaiserliche Delegation zurückging. Bernhard Jussen hat versucht, diesen Gegensatz dadurch zu überwinden, dass er die Bischofsherrschaft als Teil der politisch-sozialen Umordnung in Gallien beschrieb. Dabei hob er vor allem die liturgische Bedeutung des Bischofs und die damit verbundene Selbstdarstellung hervor. Die Bedeutung des Almosengebens für den Bischof wird auch aus dieser neuen Perspektive vernachlässigt. Ziel meines Projektes wird es deshalb sein, ein präziseres Modell für die Erklärung der bischöflichen Armenfürsorge zu entwickeln.

Das zentrale Argument von Jussens Modell geht davon aus, dass der Bezugsrahmen Imperium und Kaiser für die gallorömische Senatsaristokratie weggefallen sei, und diese in der ecclesia einen alternativen Bezugsrahmen gefunden hätte. Wurden zuvor zur Ausübung von Herrschaft imperiale Ämter bevorzugt, gewinnt nun das Bischofsamt als höchste Position innerhalb der ecclesia zunehmend an Attraktivität und wird als erstrebenswerter Abschluss einer weltlichen Karriere verstanden. Der Anspruch solch „weltlicher“ Kandidaten auf das Bischofsamt, hier ist exemplarisch unter anderen an Sidonius Apollinaris zu denken, ist zunächst umstritten. Konkurrenz erwächst ihnen in erster Linie durch Persönlichkeiten vom Typus eines Martin von Tours, die sich selbst als pauper bezeichnen und auf ihren Besitz zu Gunsten der Armen verzichten, um dadurch Christus nachzufolgen. Es gelingt den aristokratischen Vertretern aber in relativ kurzer Zeit, sich durchzusetzen und die „geistlichen“ Gegner ins monastische oder eremitische Leben abzudrängen. Einblick in diesen Prozess gibt eine Argumentationslinie, die Sidonius anlässlich einer Bischofswahl in Bourges referiert, dass sich der Kandidat nicht für das Amt eines Bischofs, sondern besser für das eines Abtes eignen würde und sich besser für die Seelen vor dem himmlischen Richter als für die Körper vor den weltlichen Richtern einsetzen könne. Ein Bischof muss dieser Ansicht nach also in weltlichen Dingen Beistand leisten können, während ein Abt diese Funktion in geistlichen Belangen wahrnehmen soll. Zur Zeit Gregor von Tours ist diese Gruppe bereits so weit marginalisiert, dass dieser Martin von Tours uneingeschränkt verehren kann, ohne deshalb befürchten zu müssen, dadurch seinen eigenen aristokratischen Anspruch auf das Bischofsamt zu untergraben.

Die Folgen dieses Vorgangs sind mehrschichtig. Die Vertreter der gallorömischen Senatsaristokratie, die ins Bischofsamt drängen, bringen ihre spezifischen Vorstellungen ins Amt mit ein, es erfährt dadurch eine massive Umdeutung im Sinne einer aristokratischen Prägung. Dem gegenüber zeitigt die Übernahme des Bischofsamts aber auch deutliche Auswirkungen auf die jeweiligen Persönlichkeiten. Auch das lässt sich am prominenten Beispiel des Sidonius Apollinaris veranschaulichen. Die Bitte um ein Gedicht von seinem Freund Oresius schlägt er mit folgenden Worten aus: „primum ab exordio religiosae professionis huic principaliter exercitio renuntiavi, quia nimirum facilitati posset accommodari, si me occupasset levitas versuum, quem respicere coeperat gravitas actionum“ (Ep. 9,12,1). Gleichzeitig bringen viele Angehörige der Senatsaristokratie substantiell eigenes Vermögen in die frühmittelalterliche Kirche ein und verändern so deren finanzielle Möglichkeiten enorm. Wie wichtig dies für die Kirche dieser Zeit ist, zeigt sich in verschiedenen Berichten, in denen das Vermögen eines Bischofs-Kandidaten eine zentrale Rolle spielt. Dies immer auch im Hinblick darauf, dass er dadurch in der Lage sei, dem bischöflichen Pflichtenheft – in welchem der Armenfürsorge grosse Bedeutung zukommt – Genüge zu tun.

Diese Fragen zu untersuchen, stellt durchaus eine methodische Herausforderung dar. Die sehr unterschiedlichen Quellen, normative, erzählende und hagiographische Texte, Briefe, Predigten sowie Gedichte und Inschriften müssen einer Analyse unterzogen werden, die jeder Textgattung Rechnung trägt. Dies scheint eine Selbstverständlichkeit, doch Gedichte und vor allem Inschriften bieten Interpretationsprobleme, die bisher nur unzureichend erforscht worden sind. So wurde der Aussagewert der Inschriften in der älteren Forschung als gering eingestuft, da sie rein topisch seien. Aus diesem Grund wurden sie bisher auch nicht für die Untersuchung der Armut im frühen Mittelalter herangezogen. Dabei wurde die Öffentlichkeitsfunktion der Inschriften aber übersehen. Da zudem durchaus nicht alle Bischofsepitaphien auf die Armenfürsorge des Bischofs eingehen, andererseits manche diese als einzige Tätigkeit des Bischofs hervorheben, wird man mit dem Diktum der Topik den Inschriften kaum gerecht. Eine Untersuchung, die mit diesem Quellenmaterial arbeitet, muss also auch Kriterien für die optimale Auswertung der Gedichte und Inschriften entwickeln, wie etwa die Untersuchung von Begriffen, Formulierungen, Junkturen und Stellung der Worte im Text.

Für das Projekt gilt, dass die Fragestellung und der neue methodische Zugriff eine Beschränkung der Untersuchung auf das Frankenreich erfordern. In dieser historisch zentralen Landschaft ermöglichen die Vielfalt und die Dichte der Quellen tiefer gehende Studien. Am Anfang soll eine Sammlung und Sichtung der verschiedenen Quellengruppen stehen: erzählende Quellen, Kanones und Synodalakten, Predigten, Briefe und hagiographische Texte sowie Gedichte und Inschriften. Des Weiteren müssen die Textstellen zur Armenfürsorge, Bischofsherrschaft, zur Wahrnehmung der Armen und zu den ökonomischen Faktoren miteinander verknüpft und chronologisch geordnet werden.

Bei den Gedichten und den epigraphischen Zeugnissen muss herausgearbeitet werden, welche Funktion hier die Aussagen zu Herrschaft und Armenfürsorge besitzen, ob sie nur als Lob ohne konkreten Bezug verstanden werden können oder ob sie konkrete Situationen beschreiben. Dies kann nur geschehen, indem diese Texte in Bezug zu den übrigen Quellen gesetzt werden. Es muss geprüft werden, ob sich hier zeitliche und regionale Überschneidungen zur Erwähnung von Bischofsherrschaft und Armenfürsorge in Konzilskanones und in erzählenden Quellen ergeben, denn dies kann wichtige Indizien für den Realitätsbezug der Aussagen in den Gedichten und Inschriften liefern. Zudem müssen die Öffentlichkeitsfunktion und der Adressatenkreis dieser Texte untersucht werden.

Zuletzt sollen die Ergebnisse dieser Analyse in eine systematische Darstellung überführt werden. Dabei wird der Schwerpunkt der Studie auf die konkret-historischen Entwicklungen gelegt werden.