Von Daniel Ursprung, wissenschaftlicher Mitarbeiter: Revolution in Rumänien, Dezember 1989

Der spektakulärste Akt des Wendejahres 1989 ereignete sich vor genau 30 Jahren: der dramatische Sturz des rumänischen Machthabers Nicolae Ceauşescu. Um 12:06 Uhr am 22. Dezember 1989 flüchtete er, von Revolutionären verfolgt, mit dem Helikopter vom Dach des ZK-Gebäudes in Bukarest. Die Hintergründe gelten seither als „ungeklärt“ – so die Frage, wer für die fast 1300 Todesopfer verantwortlich war, die im Dezember 1989 gewaltsam ums Leben kamen. Etwa 80% der Toten wurden nach der Flucht Ceauşescus erschossen, im Wesentlichen vom 22. bis 25. Dezember, den Tagen zwischen der Flucht und der Hinrichtung Ceauşescus. Die juristische Aufarbeitung ist nach endlosen Verzögerungen erst kürzlich wieder aufgenommen worden, allerdings in uzureichender Form.
In den letzten 30 Jahren hat es offenbar eine systematisch gesteuerte Desinformationskampagne geschafft, durch einen Schleier aus Gerüchten, Behauptungen und Spekulationen die Sicht auf die Ereignisse weitgehend zu verhüllen. Bei akribischer und kritischer Sichtung der an sich gut zugänglichen Belege liessen sich jedoch viele dieser Mythen widerlegen. Der US-Amerikaner Richard Andrew Hall ist durch minutiöse Rekonstruktion bereits in den 90er Jahren zu plausiblen Schlüssen gelangt, die jedoch kaum beachtet wurden.
Als widerlegt gelten können demnach die Thesen eines angeblichen ausländisches Eingreifens oder die Vorstellung, der neue Machthaber Ion Iliescu habe den Volksaufstand provoziert, um so einen Staatsstreich durchzuführen. Die „Terroristen“, deren Existenz lange geleugnet wurde, existierten aber tatsächlich: ab dem Abend des 22. Dezembers gerieten strategische Ziele, aber auch Zivilisten unter gezielten Beschuss durch Unbekannte (oft mit international geächteter Munition, sog. Dum-Dum-Geschosse), während mit technisch anspruchsvollen Radar-Simulationen Luftangriffe auf Armeeeinheiten vorgetäuscht oder mit Gerüchten Panik verbreitet wurde.
Verantwortlich dafür waren anscheinend Spezialkommandos insbesondere des weit verzweigten Staatssicherheitsdienstes Securitate, wahrscheinlich unter Einsatz des „Netzwerks R“ (Reţeaua R), eine konspirative Widerstandsorganisation. Sie war für den Falle einer Invasion konzipiert und sollte die Besatzer durch Sabotage und psychologische Kriegsführung zermürben. Unklar ist, ob die Aktivierung 1989 eine Konterrevolution mit der Rückkehr Ceauşescus bezweckte oder ob es sich um einen Machtkampf zwischen verfeindeten Teilen des alten Apparates (Securitate, Armee, Partei) handelte, die so die Nachfolgeregelung ausfochten. Jedenfalls mussten die diskreditierten Kommandanten der Repressionsorgane daran interessiert sein, Akten und Beweise zu vernichten und sich einen Platz in der neuen Führung zu sichern, gleichzeitig aber auch über ein Alibi zu verfügen, sollte Ceauşescu an die Macht zurückkehren.
Die juristische (von Einzelfällen abgesehen), politische und im Zuge davon auch wissenschaftliche Aufarbeitung konnte bislang mit gezielter Desinformation weitgehend erfolgreich verhindert werden. Zumindest die wissenschaftliche Erforschung scheint aber jetzt in Gang zu kommen.
Richard Andrew Hall's auf seiner nie integral publizierten Dissertation von 1997 aufbauende Erkenntnisse auf der englischsprachigen, aber leider sehr unübersichtlichen Seite https://romanianrevolutionofdecember1989.com
Desgleichen sehr detailliert und kenntnisreich der rumänische Blog des unermüdlichen Temeswarer Aktivisten und Revolutionärs Marius Mioc, eine Art informeller Chronist der Ereignisse, der wie Hall als einer der Wenigen schon früh auf die Desinformation aufmerksam gemacht hat: https://mariusmioc.wordpress.com/
Darauf aufbauend für die rumänische Forschung jetzt Andrei Ursu, Mădălin Hodor, Roland O. Thomasson: „Cine a tras în noi după 22“. Studiu asupra vinovaţiilor pentru victimele Revoluţiei Române din decembrie 1989. In: Noua Revista de Drepturile Omului 4-2018, S. 5-128.
Von denselben Autoren ist diese Woche im renommierten Verlag Polirom folgendes Buch erschienen: Trăgători şi mistificatori. Contrarevoluţia Securităţii în decembrie 1989. Iași 2019 - siehe dazu auch den englischen Kurzbeschrieb: die hier als neu präsentierten Erkenntnisse liegen allerdings zu guten Teilen dank Halls Forschungen schon lange vor, sind bisher aber nur wenig beachtet worden.
Weitere News
- Von Regina Klaus, Verw.-Ass.: CAD – Caucasus Analytical Digest, No. 122 (July 2021)
- Von Regina Klaus, Verw.-Ass.: Jeronim Perović: Rohstoffmacht Russland - Eine globale Energiegeschichte (Köln 2022)
- Von Emina Konjalić (ehem. Tutorin): Aspasia - The International Yearbook of Central, Eastern, and Southeastern European Women's and Gender History
- Von Julia Zuber, Assistentin: Michelle Berdy - «The Word's Worth»
- Von Benjamin Kaelin, WiMa: «Selbstinszenierung in Kriegszeiten» – Interview mit Andrej Marković
- Von Julia Zuber, Assistentin: Virtuelle Ausstellungen im Historischen Archiv der Omsker Oblast'
- Von Daniel Ursprung, WiMa: Mapire – Historical Maps
- Von Regina Klaus, Verw-Ass.: Im Reich Orbáns - 3teilige Podcast-Serie von Radio SRF zu Ungarn
- Von Peter Collmer, PD: Stalin digital
- Von Daniel Ursprung, WiMa: Rossica Europeana - Alte Drucke und Rara an der SOB
- Von Daniel Ursprung, WiMa: Valentin Mandache – Architekturführungen durch Bukarest
- Von Regina Klaus, Verw.Ass.: copernico.eu – Neues Portal zur Ostmitteleuropa-Forschung
- Von Regina Klaus, Verw.Ass.: Sylejmani, Shqipe: Bürde & Segen, (mbassador) Basel 2020 - Buchtipp
- Von Jovanka Antić, HiWi: Rossija v Graždanskoj vojne 1918–1922: ėnciklopedija v trech tomach
- Von Daniel Ursprung, WiMa: Digital Ottoman Studies
- Von Benjamin Kaelin, Assi: V Štabach Pobedy, 1941-1945 (ROSSPĖN, Moskva 2020)
- Von Natalija Jovanović, HiWi: Dubioza Kolektiv
- Von Daniel Ursprung, WiMa: novastan.org
- Von Felix Frey, Gast-Dozent: Quellensammlung «Russian Perspectives on Islam»
- Von Regina Klaus, V-Ass.: John Steinbeck/Robert Capa, Russische Reise — ein Seh- und Lesetipp
- Von Jovanka Antić, HIWI: Facebook der Russischen Revolution
- Von Daniel Ursprung, WiMa: Balkan-Blog
- Von Regina Klaus, VerwAss: Réveil sur Mars – Film (CH/F, 2020)
- Von Andrej Marković, Assistent: sovietblocksecurity.eu
- Von Gleb Albert, Post-Doc: Computerspiele in der späten ČSSR
- Von Peter Collmer, PD: Biografisches Lexikon «Widerstand und Opposition im Kommunismus 1945–91»
- Von Andrej Marković, Assistent: Jüdisches Leben in Belgrad – digital
- Von Jovanka Antić, HiWi: Crvena - Antifaschistische Front der Frauen
- Von Andrej Marković, Assistent: Bukovica (1968)
- Von Nada Boškovska, Lst-Inhaberin: Rumena Bužarovska - Mein Mann
- Von Benjamin Kaelin, Assistent: Gorodskaja Feerija: Russkij Plakat Konca XIX – Načala XX Veka (Moskva 2020)
- Von Daniel Ursprung, WiMa: Majlis Podcast
- Von David Tréfás, Lehrbeauftragter: Gedenkstätten zu Trianon in Ungarn
- Von Andrej Marković, Assistent: Once Upon a Time and Never Again - Ausstellung des Humanitarian Law Center, Prishtina
- Von Jovanka Antić, HiWi OEG-Bibliothek: Muzej žena Crne Gore
- Von Regina Klaus, Verw.-Ass: «Polen – Ein Land driftet auseinander» (Podcast von Radio SRF)
- Von Leonie Rohner, Tutorin: "Soviet Movies" und "Eastern European Movies" online
- Von Nada Boškovska, Lst-Inhaberin: Tage südosteuropäischer Literatur – Literaturhaus Zürich, 26.–28.02., online
- Tipp der Woche vom OEG-Team
- Von Dunja Krempin, Koordinatorin CEES: Kostin, Igor: Tschernobyl – Nahaufname, München (Kunstmann) 2006
- Von Andrej Marković, Assistent: Muškarci (Jugoslawien, 1963)
- Von Daniel Ursprung, WiMa: Digibuc - Digitale Bibliothek Bukarests
- Von Peter Collmer, PD: Notes from Poland
- Von Andrej Marković, Assistent: Interaktive Karte des Königreichs Jugoslawien
- Von Benjamin Kaelin, Assistent: Das Mosfil’m YouTube-Archiv
- Von Nataša Mišković, Gastdozentin Uni Basel: Filmreihe Lordan Zafranović - «Gleissendes Kino wider das Vergessen»
- Von Jovanka Antić, HiWi Bibliothek OEG: «100(0) Schlüsseldokumente zur russischen und sowjetischen Geschichte (1917–1991)»
- Von Andrej Marković, Assistent: Essaysammlung "Yugosplaining the World"
- Von Regina Klaus, Verw-Ass.: 1870–2020: 150 Jahre Polenmuseum Rapperswil
- Von Emina Konjalić, Tutorin: Graphic Novel von Nina Bunjevac: Vaterland – Eine Familiengeschichte zwischen Jugoslawien und Kanada
- Von Daniel Ursprung, Wiss. Mitarbeiter: Fototeca online a comunismului românesc
- Von Andrej Marković, Assistent: Ausstellung - The British and the Second World War in Yugoslavia
- Von Isabel Schenk, Studentin: Nachrichten aufs Ohr
- Vom OEG-Team
- Von Daniel Ursprung, wissenschaftlicher Mitarbeiter: Türkenbeute und Internet Archive
- Von Daniel Ursprung, wissenschaftlicher Mitarbeiter: Ottoman History Podcast
- Von Dr. Maria Shagina, fellow CEES: Catherine Belton, Putin's People
- Von Andrej Markovć, Assistent: Corona-Kulturangebot in Ex-Yu
- Von Dr. des. Dunja Krempin, Koordinatorin CEES: Dan Healey: Russian Homophobia
- Von Leonie Rohner, Tutorin: Calvert Journal, "A guide to the New East"
- Von Alexander Porath, Tutor: C-SPAN als Quelle für die Neueste Geschichte Russlands
- Von Benjamin Kaelin, Assistent: V 2017 godu
- Von Prof. Dr. Nada Boškovska: Andreevski, Quecke
- Von Daniel Ursprung, Wissenschaftlicher Mitarbeiter: MOOCs
- Von PD Dr. Peter Collmer: Diversity, historisch!
- Von Regina Klaus, Verwaltungsassistentin OEG: Literaturhaus, Osteuropa-Veranstaltungen
- Von Andrej Marković, Assistent: Bosnischer Atlas der Kriegsverbrechen
- Von Julia Zuber, Tutorin: Podcasts des Davis Center
- Von Dr. Maria Shagina: The Bridge. Natural Gas in a Redivided Europe
- Vom OEG-Team: Festschrift Wende 1989
- Von Tomislava Kosić, Doktorandin: Instagram
- Von Emina Konjalić, Studentin und Tutorin: Urbex im Osten
- Von Dr. Maria Shagina: Podcast Russia China
- Von Prof. Dr. Jeronim Perović: Karmal in der Tschechoslowakei
- Von Andrej Marković, Assistent: ARKzine
- Von Johannes Wahl, MA-Student/Tutor: Polenmuseum Rapperswil
- Von Daniel Ursprung, wissenschaftlicher Mitarbeiter: New Books Network
- Von Prof. Dr. Ekaterina Emeliantseva Koller: Manual for Survival
- Von Regina Klaus, Verwaltungsassistentin OEG: Culturescapes
- Von PD Dr. Peter Collmer - Osteuropa digital: Osmikon
- Von Benjamin Kaelin, Assistent: Sreda 19.7.1961
- Von Prof. Dr. Nada Boškovska: Klein und sehr fein!