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Historisches Seminar

NFP-51-Pojekt

«Aktenführung und Stigmatisierung. Institutionelle Ausschlussprozesse am Beispiel der Aktion ‹Kinder der Landstrasse› 1926–1973»

2003–2006

Leitung Prof. Dr. Roger Sablonier / Dr. Thomas Meier
Adresse: Culmannstr. 1, CH-8006 Zürich
Telefon: +41 (0)44 634 28 50 oder 51
Fax: +41 (0)44 634 49 81
E-Mail: meiertho@hist.uzh.ch

Anschriften der Projekt-MitarbeiterInnen

Dr. Thomas Meier

Universität Zürich, Projektstelle Mittelalter, Culmannstr. 1, CH-8006 Zürich
Tel. +41 (0)44 634 28 50, e-mail: meiertho@hist.uzh.ch
oder:
Beratungsstelle für Landesgeschichte AG, Im Rank 146, CH-6300 Zug
Tel. +41 (0)44 262 01 81, e-mail: meier@landesgeschichte.ch

lic. phil. Sara Galle

e-mail: sara@access.uzh.ch

Schlussbericht (Auszug)

Welche Rolle Akten bei Prozessen der Stigmatisierung sowie schliesslich Diskriminierung und Ausgrenzung spielen können, wird am Beispiel des von der schweizerischen Stiftung Pro Juventute getragenen «Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse» analysiert. Dieses hatte zum Ziel, die so genannte Vagantität auszutilgen. Mit Hilfe der Behörden wurden zwischen 1926 und 1973 in systematischer Weise jenische Kinder ihren Eltern weggenommen und in Pflegefamilien, Heimen, Kliniken, Anstalten oder an Arbeitsstellen fremdplatziert, um aus ihnen sesshafte und "rechtschaffene" Menschen zu machen. Mit der Analyse der umfangreichen «Hilfswerk»-Akten verbinden sich auch neue Erkenntnisse über diese Pro-Juventute-Aktion, die in ihrer Art einzigartig war, in mancherlei Hinsicht aber als exemplarischer Fall schweizerischer Fürsorge- und Minderheitenpolitik des 20. Jahrhunderts zu betrachten ist. Indem nach dem Zusammenhang zwischen Aktenführung und Prozessen der Stigmatisierung bzw. Diskriminierung im Sinne eines sequenziell vernetzten, kumulativen Ausschlusses aus einer Mehrzahl von gesellschaftlichen Teilbereichen (Familie, Bildung, Wirtschaft usw.) gefragt wird, möchten wir auch einen Beitrag zur Bürokratieforschung leisten. Die Projektthematik ist zudem geeignet, das Phänomen des so genannten Schrifthandelns in den Blick zu nehmen. Gemeint ist damit, was mit einem Schriftstück und seinen Inhalten nach dessen Herstellung geschieht. Auf einer allgemeineren Ebene soll das Projekt deshalb auch zur geschichtswissenschaftlichen Methodendiskussion beitragen. In Interviews wird schliesslich der Frage nachgegangen, welche Rolle die Akten für die vom "Hilfswerk" Betroffenen spielten und spielen.

Methoden

Entsprechend den Projektzielen und Fragestellungen werden unterschiedliche Methoden verwendet. Neben der historisch-kritischen Methode, die durch Analysekriterien aus der so genannten Schriftlichkeitsdiskussion erweitert wird, kommen quantitativ-statistische und Methoden der qualitativen (Sozial-)Forschung zum Zuge. Datenbanken mit Angaben zu sämtlichen im «Hilfswerk» «betreuten» Personen und Familien bieten die Grundlage für zahlreiche quantitative Analysen.

Viele Aspekte, etwa der Vorgang der Fallkonstruktion durch das «Hilfswerk», sind damit allein nicht hinreichend zu klären. Dazu bedarf es zusätzlicher qualitativer Auswertungen des Aktenmaterials.

Um analysieren zu können, welche Dokumente von wem, wann, zu welchen Zwecken und wie angelegt und aufbewahrt wurden, werden von einem Sample Aktenbiografien, das heisst Biografien von Akten, erstellt. Dabei werden die Dokumente nach bestimmten Kriterien erfasst und analysiert. Dieses Verfahren bietet nicht nur Aufschlüsse über die Dokumentenarten, Absender, Adressaten und Aktenströme, sondern erlaubt auch Rekonstruktionen der Karrieren einzelner Aktenstücke bzw. von darin transportierten und fortgeschriebenen Inhalten, mithin Stigmata und Stigmatisierungen.

Auch der Perspektive der Betroffenen auf ihre Akten wird Beachtung geschenkt, indem neben biografischen Aufzeichnungen lebensgeschichtliche Erzählungen in Form von Interviews in die Untersuchung einbezogen werden.

Resultate

Das Projekt lieferte eine beträchtliche Erweiterung der Kenntnisse über das «Hilfswerk» und seine Klientel. So können erstmals verbindliche Daten zu verschiedenen Aspekten vorgelegt werden, etwa dazu, wie viele Kinder und Familien betroffen waren, woher sie kamen oder welche Stationen sie durchliefen. Sodann sind wir über die Vorgehensweise des «Hilfswerks», seine Akteure und den institutionellen Kontext, in dem es agierte, weit besser als bisher orientiert.

Ergebnisse können ferner vorgelegt werden für den Bereich des «Schrifthandelns» bzw. der Aktenführung. Mittels der Aktenbiografien konnten nicht nur die formalen Strukturen der angelegten Akten offen gelegt, sondern auch die Aktenströme im Netzwerk des «Hilfswerks» nachgezeichnet werden. Sodann wurden Einblicke in die mannigfaltige Verwendung einzelner Dokumente oder ganzer Dossiers gewonnen.

Schliesslich konnte aufgezeigt werden, wie häufig und welche Stigmata sich in den untersuchten Akten finden und wie diese innerhalb der Institution sowie im aktenmässigen Verkehr mit Dritten fort- und festgeschrieben werden und zu verschiedenen Formen der Diskriminierung führen. Damit konnte ein Zusammenhang zwischen Aktenführung und Stigmatisierung nachgewiesen werden. Diese Feststellung trifft auch für andere Institutionen zu.

Empfehlungen

Die Resultate legen es nahe, für Personenakten und -daten in Bezug auf Anlage, Führung, Aufbewahrung, Aufbewahrungsfristen sowie die Verwendung und den Zugang zu diesen Akn bzw. Daten für die Betroffenen wie für Dritte gesetzliche Regelungen zu schaffen. Dabei gilt es zu verhindern, dass mit Datenschutzargumenten Aktenmonopole errichtet werden, das heisst, der Daten- und Persönlichkeitsschutz und die Interessen der Forschung sind gleichermassen zu berücksichtigen. Für die praktische Umsetzung sind Ombudsstellen einzurichten.

Weiterführende Informationen

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